Ausgangsverfahren und Vorlagefrage


Für Herrn Scheffler sind mehrere Straftaten in das Verkehrszentralregister eingetragen, u. a. die des Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Trunkenheit im Verkehr bei einem BAK‑Wert von 1,94 ‰ vom 11. März 2000.

Da er wegen dieser und weiterer Verstöße mit 18 Punkten den für einen deutschen Führerschein vorgesehenen Höchstpunktestand erreicht hatte, verzichtete er am 29. Februar 2000 auf seine am 28. Februar 1986 erteilte deutsche Fahrerlaubnis.

Am 5. August 2004 stellte er einen Antrag auf Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis, der mit Bescheid vom 17. Februar 2005 abgelehnt wurde, da er die Anordnung des Landkreises, ein medizinisch-psychologisches Gutachten über seine Fahreignung vorzulegen, nicht befolgt hatte.

Am 15. Oktober 2004 wurde Herrn Scheffler eine polnische Fahrerlaubnis erteilt, in der ein Wohnsitz in Polen eingetragen ist. In seinem Reisepass ist eine Bestätigung über den Aufenthalt in Polen für einen Zeitraum von sechs Monaten eingeheftet.


Der Landkreis erhielt von der Erteilung dieser polnischen Fahrerlaubnis anlässlich einer Verkehrskontrolle im März 2006 Kenntnis.

Am 13. April 2006 beantragte Herr Scheffler beim Landkreis die Anerkennung des Rechts, von seiner polnischen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch machen zu dürfen. Er legte am 26. April 2006 ein vom l. November 2004 datierendes Gutachten des TÜV Thüringen e. V. über seine Fahreignung vor, das auf einer Untersuchung vom 18. Oktober 2004 basierte. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurde in diesem Gutachten wegen der alkoholbedingten Verkehrsauffälligkeiten in der Vergangenheit eine für den Kläger negative Prognose für seine Fahreignung aufgestellt. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass mit dem am 11. März 2000 festgestellten BAK‑Wert von 1,94 ‰ ein Alkoholmissbrauch nachgewiesen sei und Herr Scheffler sein Trinkverhalten in der Vergangenheit nicht aufgearbeitet habe.

Mit Schreiben vom 23. Mai 2006 ordnete der Landkreis gegenüber Herrn Scheffler an, spätestens bis zum 1. August 2006 ein neues Gutachten zur Überprüfung seiner Fahreignung vorzulegen. Mit Schreiben vom 3. August 2006 teilte die zuständige polnische Straßenverkehrsbehörde, die Herrn Scheffler die Fahrerlaubnis am 15. Oktober 2004 ausgestellt hatte, mit, dieser habe nach Belehrung über strafrechtliche Folgen erklärt, in Deutschland sei sein Führerschein weder eingezogen, noch sei ihm dort die Fahrerlaubnis entzogen worden.

Der Landkreis hielt mit Schreiben vom 24. April und 30. Mai 2007 an der Anordnung vom 23. Mai 2006 zur Beibringung eines Gutachtens über die Fahreignung von Herrn Scheffler fest. Aufgrund des Gutachtens vom 18. Oktober 2004 hätten sich neue Tatsachen nach Erteilung der polnischen Fahrerlaubnis vom 15. Oktober 2004 ergeben, die Zweifel an seiner Fahreignung begründeten. Auch habe er bei der polnischen Behörde falsche Angaben gemacht. Nach der Weigerung von Herrn Scheffler, ein weiteres Eignungsgutachten vorzulegen, erkannte der Landkreis ihm durch Bescheid vom 15. August 2007 das Recht ab, von der polnischen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen, ordnete die sofortige Vollziehung an und lehnte den Antrag auf Anerkennung dieses Rechts ab (im Folgenden: Aberkennungsentscheidung).

Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Alkoholfahrt des Herrn Scheffler am 11. März 2000 mit einem Blutalkoholwert von 1,94 ‰ Anlass zu Eignungszweifeln gegeben habe, die nicht durch Vorlage eines Gutachtens ausgeräumt worden seien. Es sei zu berücksichtigen, dass das Gutachten vom 18. Oktober 2004 der Verwaltung erst im April 2006 bekannt geworden sei und Herr Scheffler diese Gegebenheiten der zuständigen polnischen Behörde verschwiegen habe. Schon auf der Grundlage des Gutachtens vom 18. Oktober 2004 habe die Nichteignung festgestanden. Die sofortige Vollziehung sei im öffentlichen Interesse anzuordnen, da die Gefahr bestehe, dass Herr Scheffler erneut alkoholbedingt auffällig werde.


Gegen diese am 17. August 2007 zugestellte Aberkennungsentscheidung erhob Herr Scheffler am 26. August 2007 Widerspruch beim Thüringer Landesverwaltungsamt. Gleichzeitig suchte er beim Verwaltungsgericht Meiningen um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach. Durch Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2007 wies das Thüringer Landesverwaltungsamt den Widerspruch des Herrn Scheffler gegen die Aberkennungsentscheidung zurück. Am 1. Februar 2008 erhob dieser dagegen beim Verwaltungsgericht Meiningen Anfechtungsklage. Er beantragt, die Aberkennungsentscheidung in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Dezember 2007 aufzuheben,

Die Vorlagefrage stellt sich im Rahmen des Verfahrens über die Anfechtungsklage.

Antwort des Gerichtshofs
57      Erstens ist festzustellen, dass die Vorlagefrage nicht die Gültigkeit des dem Kläger des Ausgangsverfahrens am 15. Oktober 2004 ausgestellten Führerscheins im Hinblick auf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 91/439 betrifft. Denn aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass das Verwaltungsgericht Meiningen der Ansicht ist, dass der Führerschein in Polen unter Beachtung der in der Richtlinie 91/439 vorgesehenen Voraussetzungen ausgestellt worden sei, und es mit seiner Frage nur wissen möchte, ob ein Mitgliedstaat auf den Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage eines Fahreignungsgutachtens anwenden kann, wenn dieses Gutachten nach dem Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins erstellt worden sei, sich aber auf ausschließlich vor diesem Datum liegende Tatsachen beziehe.


58      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei seiner Rechtsprechung zur Richtlinie 91/439 bereits mehrmals über die juristischen Folgen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine zu entscheiden und auf der Grundlage verschiedener Sachverhalte die Rechte und Pflichten des Ausstellungs- und des Aufnahmemitgliedstaats in Bezug auf die Überprüfung der Fahreignung und des Wohnsitzes des Inhabers der Fahrerlaubnis zu klären hatte.

59      Aus der in Rndnr. 48 angeführten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht in jedem Fall verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung anzuerkennen, die sich aus einem in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt (Beschluss Wierer, Rndnr. 50).

60      Insbesondere gestattet Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439, wie dem letzten Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, den Mitgliedstaaten aus Gründen der Sicherheit des Straßenverkehrs unter bestimmten Umständen, ihre innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf jeden Inhaber eines Führerscheins anzuwenden, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet hat (Urteil Zerche u. a., Randnr. 55).


61      Der Gerichtshof hat jedoch wiederholt festgestellt, dass diese Befugnis, wie sie sich aus Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 ergibt, nur aufgrund eines Verhaltens des Betroffenen nach Erwerb des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins (vgl. Beschlüsse Halbritter, Randnr. 38, und Kremer, Randnr. 35; vgl. auch Urteile Zerche u. a., Randnr. 56, und Weber, Randnr. 34) und nicht aufgrund von Umständen vor der Erteilung dieser Fahrerlaubnis ausgeübt werden kann.

62      Zudem ist zu beachten, dass Art. 8 Abs. 4 Unterabs. 1, der einem Mitgliedstaat erlaubt, die Gültigkeit eines Führerscheins nicht anzuerkennen, der in einem anderen Mitgliedstaat von einer Person erworben wurde, auf die im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats eine Maßnahme der Einschränkung, der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung des Führerscheins angewendet wurde, eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine und aus diesem Grund eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Schwarz, Randnr. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).


63      Ein weites Verständnis der Ausnahmen vom Grundsatz der Pflicht zur Anerkennung der in anderen Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnisse ohne Formalitäten, die diesen Grundsatz mit dem Grundsatz der Sicherheit im Straßenverkehr in Ausgleich bringen, würde nämlich den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der in den Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 91/439 ausgestellten Fahrerlaubnisse völlig aushöhlen (vgl. in diesem Sinne Beschluss Wierer, Randnr. 52).


64      Die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 befugt sind, dem Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins, der aber seinen gewöhnlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet genommen hat, das Recht abzuerkennen, von diesem Führerschein in ihrem Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen, sind vom Gerichtshof insbesondere im Rahmen der Beschlüsse Halbritter und Kremer geprüft worden.

65      Der Rechtsstreit, zu dem der Beschluss Halbritter ergangen ist, betraf eine Person, die, nachdem ihr in Deutschland die Fahrerlaubnis entzogen und für eine Sperrfrist der Erwerb einer neuen Fahrerlaubnis untersagt worden war, nach Ablauf dieser Sperrfrist in Österreich einen Führerschein erhalten hatte. Die deutschen Behörden lehnten den Antrag auf Umschreibung der österreichischen Fahrerlaubnis in eine deutsche ab, wobei dieser Antrag so verstanden wurde, dass das Recht begehrt werde, von der österreichischen Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen. Sie vertraten den Standpunkt, dass der österreichische Führerschein im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkannt werden könne, da Herrn Halbritter in diesem Mitgliedstaat die Fahrerlaubnis entzogen worden sei und da die seit dieser Maßnahme bestehenden Zweifel an seiner Fahreignung nur durch ein nach den in Deutschland geltenden Normen erstelltes und positiv ausgefallenes medizinisch-psychologisches Gutachten ausgeräumt werden könnten. Die in Österreich vor der Erteilung der österreichischen Fahrerlaubnis verfasste Stellungnahme komme einem den nationalen Normen entsprechenden Gutachten nicht gleich.

66      In Randnr. 37 des Beschlusses Halbritter hat der Gerichtshof entschieden, dass, wenn der Inhaber eines gültigen Führerscheins, der nach Ablauf der Sperrfrist für den Erwerb einer neuen Fahrerlaubnis, die in einem anderen Mitgliedstaat gegenüber dem Betroffenen verhängt wurde, in letzterem Mitgliedstaat seinen Wohnsitz hat, dieser Mitgliedstaat auch dann, wenn seine nationalen Rechtsvorschriften aufgrund von Umständen, die zum Entzug einer früheren Fahrerlaubnis geführt hatten, eine erneute Prüfung der Fahreignung des Betroffenen vorschreiben, keine solche erneute Überprüfung verlangen kann, sofern diese Umstände vor der Ausstellung des neuen Führerscheins bestanden.

67      In Randnr. 38 des Beschlusses Halbritter hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Befugnis nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439, ihre innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf den Inhaber einer in einem anderen Mitgliedstaat – in jenem Fall in der Republik Österreich – ausgestellten Fahrerlaubnis, der seinen gewöhnlichen Wohnsitz in Deutschland genommen hat, anzuwenden, nur im Hinblick auf ein Verhalten des Betroffenen nach dem Erwerb der Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat ausüben kann. In jenem Fall hatte das vorlegende Gericht jedoch ausgeführt, dass keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Fahreignung von Herrn Halbritter aufgrund von Umständen in Frage zu ziehen wäre, die nach der Erteilung der österreichischen Fahrerlaubnis eingetreten seien.

68      Die Rechtssache, in der der Beschluss Kremer ergangen ist, betraf einen in Deutschland wohnhaften deutschen Staatsangehörigen, dem die deutsche Fahrerlaubnis nach wiederholter Begehung verkehrsrechtlicher Verstöße entzogen worden war. Herr Kremer hatte in Belgien eine neue Fahrerlaubnis erworben, da ihm gegenüber keine Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis verhängt worden war. Später wurde Herr Kremer in Deutschland wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt, und ihm wurde seine belgische Fahrerlaubnis entzogen, da die deutschen Behörden der Ansicht waren, dass er seit der Entziehung der deutschen Fahrerlaubnis nicht mehr berechtigt gewesen sei, in Deutschland zu fahren; sie versagten die Anerkennung dieses später in Belgien ausgestellten Führerscheins, solange Herr Kremer nicht die Bedingungen erfülle, die nach deutschem Recht für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem Entzug einer früheren Fahrerlaubnis gälten.

69      In der Rechtssache Kremer wurde der Gerichtshof gefragt, ob Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 es einem Mitgliedstaat verwehrt, das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs aufgrund eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins und damit dessen Gültigkeit in seinem Hoheitsgebiet nicht anzuerkennen, solange der Inhaber dieses Führerscheins, auf den im erstgenannten Mitgliedstaat eine Maßnahme des Entzugs einer früher erteilten Fahrerlaubnis ohne gleichzeitige Anordnung einer Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis angewendet wurde, die Bedingungen nicht erfüllt, die nach den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem Entzug einer früheren Fahrerlaubnis vorliegen müssen, einschließlich einer Überprüfung der Fahreignung, die bestätigt, dass die Gründe für den Entzug nicht mehr vorliegen.

70      Ebenso wie im Beschluss Halbritter hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Mitgliedstaat vom Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nicht die Erfüllung der Bedingungen verlangen kann, die sein eigenes nationales Recht für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem Entzug einer früheren Fahrerlaubnis aufstellt. Insbesondere können die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats die Anerkennung einer Fahrerlaubnis, die sich aus einem in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt, auch dann nicht von einer erneuten Überprüfung der Fahreignung des Inhabers abhängig machen, wenn die nationalen Rechtsvorschriften aufgrund von gleichen Umständen wie denen, die zum Entzug einer früheren Fahrerlaubnis geführt haben, eine solche Prüfung vorschreiben, sofern diese Umstände vor der Ausstellung des neuen Führerscheins bestanden (Beschluss Kremer, Randnrn. 32 und 33).


71      Im Beschluss Kremer (Randnr. 36) hat der Gerichtshof festgestellt, dass das vorlegende Gericht nichts angeführt hat, was die Fahreignung von Herrn Kremer auf der Grundlage von Umständen, die nach Erwerb dieses gültigen, in Belgien ausgestellten Führerscheins aufgetreten sind, in Zweifel ziehen könnte. Vielmehr wurde ihm nur zur Last gelegt, dass er nach dem Erwerb dieser Fahrerlaubnis in Deutschland ein Kraftfahrzeug geführt habe, ohne Inhaber einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein, denn der in Belgien erworbene Führerschein wurde mit der Begründung nicht anerkannt, dass die Bedingungen nicht beachtet worden seien, die nach deutschem Recht für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem Entzug einer früheren Fahrerlaubnis gälten.


72      Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich als Voraussetzung dafür, dass die dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 erteilte Befugnis zur Anwendung seiner innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf den Inhaber dieses Führerscheins ausgeübt werden kann, dass Anhaltspunkte dafür bestehen müssen, die Fahreignung des Inhabers dieses Führerscheins aufgrund von Umständen in Zweifel zu ziehen, die im Zusammenhang mit einem Verhalten des Betroffenen nach dem Erwerb seines Führerscheins in einem anderen Mitgliedstaat stehen, das seine Fahreignung in Frage stellt.

73      Somit muss das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zur Klärung der Frage, ob ein Gutachten wie das vom 1. November 2004 den Behörden des Aufnahmemitgliedstaats erlaubt, nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 dem Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins das Recht abzuerkennen, im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats von diesem Führerschein Gebrauch zu machen, prüfen, ob dieses Gutachten ein Gesichtspunkt sein kann, der geeignet ist, die Fahreignung von Herrn Scheffler auf der Grundlage von Umständen, die nach Erwerb dieses Führerscheins eingetreten sind, in Zweifel zu ziehen.

74      Im vorliegenden Fall ist, wie Herr Scheffler und die Kommission ausgeführt haben, kein Anhaltspunkt ersichtlich, der es erlaubt, die Fahreignung von Herrn Scheffler auf der Grundlage von Umständen, die nach Erwerb seines polnischen Führerscheins aufgetreten sind, in Zweifel zu ziehen. Denn aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass sich die nach dem Datum der Ausstellung dieses Führerscheins erfolgte Beurteilung der Fahreignung ausschließlich auf vor diesem Datum liegende Tatsachen bezieht. Das vorlegende Gericht führt insbesondere aus, dass Herrn Scheffler kein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung nach der Ausstellung dieses Führerscheins vorgeworfen werden könne.

75      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung, dass ein Verhalten des Inhabers eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins gegeben ist, das nach der Ausstellung dieses Führerscheins liegt und geeignet ist, die Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen, nicht zwangsläufig so zu verstehen ist, dass sie sich ausschließlich auf einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung bezieht. Gleichwohl erfordert eine solche Voraussetzung, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein nach der Ausstellung dieses Führerscheins liegendes Verhalten des Inhabers festgestellt wird, durch das dessen Fahreignung in Frage gestellt werden bzw. auf seine fehlende Fahreignung geschlossen werden kann.

76      Auf jeden Fall obliegt es dem vorlegenden Gericht, das allein eine umfassende Kenntnis des ihm unterbreiteten Rechtsstreits hat, zu prüfen, ob ein Fahreignungsgutachten wie das im Ausgangsverfahren fragliche die in den Randnrn. 72, 73 und 75 dieses Beschlusses genannten Voraussetzungen erfüllt und einen, sei es auch nur partiellen, Bezug zu einem nach der Ausstellung des polnischen Führerscheins festgestellten Verhalten des Betroffenen hat. Ist dies nicht der Fall, kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes es aufgrund eines solchen Gutachtens nicht ablehnen, die Fahrberechtigung in seinem Hoheitsgebiet nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 anzuerkennen, die sich aus einem in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Führerschein ergibt.

77      Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 1 Abs. 2 und 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439 in dem Sinne auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, es bei der Ausübung seiner Befugnis nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 zur Anwendung seiner innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins aufgrund eines vom Inhaber dieses Führerscheins vorgelegten Fahreignungsgutachtens abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet die sich aus dem in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergebende Fahrberechtigung anzuerkennen, wenn dieses Gutachten zwar nach dem Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins und auf der Grundlage einer nach diesem Zeitpunkt durchgeführten Untersuchung des Betroffenen erstellt wurde, aber keinen, sei es auch nur partiellen, Bezug zu einem nach der Ausstellung dieses Führerscheins festgestellten Verhalten des Betroffenen hat und sich ausschließlich auf vor diesem Zeitpunkt liegende Umstände bezieht.
 Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 1 Abs. 2 und 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2006/103/EG des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung sind in dem Sinne auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, es bei der Ausübung seiner Befugnis nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 91/439 zur Anwendung seiner innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins aufgrund eines vom Inhaber dieses Führerscheins vorgelegten Fahreignungsgutachtens abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet die sich aus dem in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergebende Fahrberechtigung anzuerkennen, wenn dieses Gutachten zwar nach dem Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins und auf der Grundlage einer nach diesem Zeitpunkt durchgeführten Untersuchung des Betroffenen erstellt wurde, aber keinen, sei es auch nur partiellen, Bezug zu einem nach der Ausstellung dieses Führerscheins festgestellten Verhalten des Betroffenen hat und sich ausschließlich auf vor diesem Zeitpunkt liegende Umstände bezieht.

Quelle: EuGH – Beschluss vom 04.12.2010